Liest irgendjemand noch Plattenkritiken?
Von Alexander Schölzel am 16. Oktober 2017
Plattenkritiken für den kritischen Geist
Gerade in Zeiten der informationellen Beschleunigungswut erscheinen Kritiken meist zu spät: längst haben sich Fans ihr Bild gemacht, ziehen eine Plattenkritik – wenn überhaupt noch – zur Untermauerung ihrer Meinung oder – wie ich – zu Unterhaltungszwecken heran.
Gibt es sie denn noch? Die ernst gemeinten Denkanstöße, tiefgründigen Kritiken an Kultur und Musik? Längst macht es den Eindruck als warteten Kritiker nur auf wackelige Neuerscheinungen, um sie sogleich für sich gewinnbringend zerfleischen zu können. Erschwerend hinzu kommt das Gefühl, dass sich Kritiker am liebsten an ihren Lieblingsbands und Künstlern auslassen. Ich persönlich glaube nicht daran, dass noch jemand eine Kritik liest, um sich im Anschluss daran für oder gegen eine Platte zu entscheiden.
Das vermeintliche Herzstück vieler Musikmagazine
Komiker Heinz Erhardt schrieb einmal über den Musikkritiker: »Morgen werden wir dann lesen, ob es uns gefallen hat.« In Zeiten des Internets und der damit einhergehenden Streaming-Plattformen suchen meiner Ansicht nach nur noch wenige Menschen nach Orientierung und Halt, wenn es um die Auswahl treffender Musiktitel geht. Wobei die kuratierten Playlists vorwiegend aus einzelnen Titeln, von denen die meisten noch nie im Kontext eines Albums standen, bestehen.
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Die Dienstleistung, die einst der Musikjournalismus in seiner publizistischen Weise erbrachte, geriet zunehmend in Vergessenheit. Seine Analysen und Metaphern ergeben sich zunehmend aus sozialen Medien und den sogenannten Micro-Blogs, in Netzwerken in denen das subjektive Ringen um Objektivität vorherrscht. Alles ist sofort verfügbar und kann von jedem zu jeder Zeit abgerufen werden. Das Publikum für eine Musikkritik – aufgeschlossen, intellektuell und neugierig – scheint zu schwinden.
Der Hang zur Kurzrezension
In vielen mir vorliegenden Zeitschriften, finden sie sich wieder: drei-, vielleicht vier-zeilige Rezensionen, die in den meisten Fällen entweder das positiv Hervorstechende oder aber auch das Negative eines Künstlers betonen, jedoch immer nur das Offensichtlichste behandeln. Eine echte Auseinandersetzung mit einem Künstler und seiner Musik kann so nicht im geringsten stattfinden. Eine Möglichkeit, sich von der überwiegenden Masse abzusetzen, wären ausführliche Kritiken, die in die Tiefe gehen.
Es muss ja nicht unbedingt so ausufernd wie zu früheren Zeiten bei klassischen Opern sein. Damals, als es noch üblich war, seine Kritik an der Komposition mit Notenbeispielen zu untermalen und sich Blätter, wie die »Allgemeine musikalische Zeitung« nicht zu schade waren, diese in voller Länge abzudrucken. So forderte Diedrich Diederichsen – seines Zeichen intellektuelle Koryphäe im Sektor der Popmusik – vor noch gar nicht langer Zeit eine »qualifizierte Langsamkeit«. Lange Rezensionen, losgemacht vom Erscheinungsdatum. Ein richtiger Weg, wie ich finde.
Bin ich zu ungebildet für Plattenkritiken?
Liest man sich manche Kritiken durch, stößt man auf ein Vokabular, das seines Gleichen sucht. Klar zeichnet das den Kritiker aus. Doch ist es nicht zwingend zielführend, wenn sich Leser vor lauter Sprachfertigkeit intellektuell ausgegrenzt fühlen. Ein Beispiel, auf das ich bei »Schlecky Silberstein« stieß und welches verfasst von Jens Balzer im »Rolling Stone« erschien, macht das sehr deutlich. Hier ein Auszug:
»Dialektischer Hochgeschwindigkeitspop mit pseudoaffirmativem Verhältnis zur kapitalistischen Kommodifizierung der Welt: Das war ja im Jahr 2015 einer der meist diskutierten Entwürfe. […] Dass Sophie das Werkt »Product« nennt, deutet schon auf die ästhetische Dialektik hin: Die alternativlose Integriertheit der eigenen Kunst in die Kulturindustrie soll hier ebenso ungeschönt selbstkritisch aufgestellt werden, wie das rasende Tempo der Songs die Daseinsgeschwindigkeit der Digital Natives im Turbokapitalismus widerspiegelt. Zu den Ahnen dieser Musik zählen neben Micky Maus auch Andy Warhol und der trügerisch überzuckerte Soulmarxismus der frühen Scritti Politti.«
Ich glaube, es wird deutlich, was ich zu sagen versuche. Während »gewöhnlicher« Journalismus als Anspruch die Einfachheit hochhält und möchte, dass möglichst viele Leser auch verstehen, was geschrieben steht, zeichnet sich der Kritiker im Musikjournalismus vor allem durch seine verwunschene Sprache aus. Für mich in erster Linie Unterhaltung pur, aber niemals kaufentscheidend.
Liest Du Plattenkritiken?
Ziehst Du Plattenkritiken als Kaufentscheidung heran? Kaufst Du dir in heutigen Zeiten noch Musikmagazine gerade wegen der Rezensionen oder vertraust Du inzwischen anderen Quellen? Ist vielleicht ein Plattenkritikern unter den Lesern, der seine Arbeitsweise einmal erläutern und mir näher bringen möchte? :-)