Guter Geschmack ist eine Lüge

Guter Geschmack ist eine Lüge
Guter Musikgeschmack - so etwas gibt es nicht.

Carlos San Segundo Von Carlos San Segundo am 15. Mai 2022

ANZEIGE

Wie wir Geschmack definieren

Wir müssen schon unterscheiden. Bei Pizza gibt es einen guten und einen schlechten Geschmack. Wer Pizza Hawaii mag, wird häufig genug hören, dass er einen schlechten Geschmack hätte.

Aber wir alle wissen doch, dass Geschmack subjektiv ist. Jeder mag etwas anderes. Jeder hat eine andere Lieblingsfarbe. Und gleichzeitig sind wir dann doch davon überzeugt, dass es Menschen mit einem guten Geschmack gibt und solche, die einen schlechten Geschmack haben.

Wie kann das sein? Was bedeutet es überhaupt, einen guten oder schlechten Geschmack zu haben?


PASSEND DAZU


Ich erinnere mich einfach mal zurück an meine Kindheit. Damals hörte ich Erwachsene über den schlechten Geschmack anderer Erwachsenen sprechen.

Im Allgemeinen bezogen sie sich dabei auf die ästhetischen Entscheidungen ihrer Mitmenschen. Wie das Sakko geschnitten war. Welche Farbe der Ranzen hatte oder wie hässlich das Auto war.

Guter Geschmack ist eine Lüge
Meinungen und Geschmäcker sind unterschiedlich.

Später fiel mir auf, dass viele Dinge, die von allen allgemein als geschmackvoll gehalten wurden, in der Regel mehr kosteten als die Dinge, die als weniger geschmackvoll galten. Manchmal waren sie feiner oder gehörten schlicht zu den Luxusgütern.

Manche Marken und Kleidungsstile wurden mit gutem und andere mit schlechtem Geschmack assoziiert. Die Art und Weise, wie Erwachsene gekleidet waren, diente dazu, ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse zu definieren.

Lies auch: Talent ist eine Lüge

Bei Kleidung habe ich dann bemerkt, dass Erwachsene diese dazu nutzen, um den finanziellen Status anderer einzuschätzen. Sie sagt dir, ob dein Gegenüber reich oder arm ist.

Aber dann fiel mir auch auf, dass es sehr teure Kleidung gibt, die trotzdem geschmacklos ist. Oftmals zu sehen bei Leuten, die zwar Geld, aber keine Klasse haben. Diese Menschen wurden häufig von anderen auch als Neureiche betitelt.

Deine soziale Klasse ist viel mehr als die Menge an Geld, die du auf deinem Konto hast. Sie ist viel komplexer als das. Sie hat mit der Kultur zu tun, deiner Geschichte, deiner Familie, deinem Land, deiner Identität und der Art und Weise, wie Du sie ausdrückst.

Unser geschmackloser Musikgeschmack

Und wie verhält sich das denn mit dem Musikgeschmack? Ist es da nicht ganz ähnlich? Nutzen wir Musik vielleicht auch nur dazu, unsere Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu definieren?

Auch in der Kunst und in der Musik gab es immer wieder bestimmte Genres und Stile, die von der breiten Masse als geschmackvoll wahrgenommen wurden. Vielleicht greife ich hier etwas zu kurz: Aber im Grunde gilt die europäische Kunst als geschmackvoll – oder bei Musik: die aus den USA.

Was bedeutet das? Dass eine Helene Fischer etwa nicht mit Johnny Cash mithalten kann? Obwohl beide im Grunde nur heimischen Schlager aufgenommen und gemacht haben?

Guter Geschmack ist eine Lüge
Bei viel Auswahl bilden sich auch unterschiedliche Geschmacksrichtungen.

Worauf ich hinaus will ist das: Die Vorstellung von gutem und schlechtem Geschmack hat wesentlich mehr mit der Klasseneinteilung unserer Gesellschaft zu tun als mit einer rein objektiven Ästhetik, auf die wir uns alle universell einigen könnten.

Und das ist nicht immer eine bewusste Sache oder eine wissentliche Entscheidung. Ich würde sogar sagen: Den meisten ist das überhaupt nicht bewusst.

Achtung: Nicht alle großen Musikgenies des letzten Jahrtausends waren weiße europäische Männer. Auch wenn die Bestenlisten nur so damit gespickt sind.

Ja, gerade wir hier in Europa assoziieren unsere eigene Kultur unbewusst mit Klasse, gutem Geschmack und – Überlegenheit.

Lies auch: Die besten Klaviermusiker der Welt

Ein Beispiel, nehmen wir Mozart: Mozart war ein hochangesehener Komponist und gilt als ein musikalisches Genie, von manchen sogar als das größte überhaupt geadelt.

Und doch schreibt eben jener Mozart einen sechsstimmigen Kanon mit dem Titel «Leck mich im Arsch g’schwindi, g’schwindi!». Ist das etwa guter Geschmack?

Auf der einen Seite sprechen wir von „Hochkultur“ mit Künstlern wie Wagner, Picasso, Beethoven, Bach, William Blake oder Mozart. Doch was bleibt dann auf der anderen Seite?

Das muss dann wohl eine Art von „Niedrigkultur“ sein – mit Leuten, die wir dann folgerichtig nicht einmal mehr als Künstler betrachten.

Justin Bieber, BTS, Harry Styles oder Miley Cyrus – sie alle machen Musik…die aber keine Kunst ist. Zumindest nicht im gesellschaftlich anerkannten Maße. Denn das zählt nur als Unterhaltungsmusik – im Gegensatz dazu steht die E-Musik: die ernste Musik.

Wie unser Geschmack manipuliert wird

Indem wir diese Unterscheidung zwischen Kunst und Unterhaltung machen, halten wir die falsche Vorstellung aufrecht, dass die große Mehrheit der Menschen nicht in der Lage sei, gute Kunst zu genießen.

Die großen Unterhaltungskonzerne sind in dieser Welt dann dafür zuständig, mittelmäßige Werke zu schaffen: Weil sie für das Volk sind und es das ist, was die Leute mögen.

Nur Unterhaltung, keine Kunst.

Doch das bedeutet ja dann gleichzeitig, dass man zu einer bestimmten Gruppe von elitären, gebildeten Menschen gehören muss, um gute Kunst oder Musik zu bewundern. Wirklich?

Oder ist das nicht eher das, was die elitär denkenden Menschen von sich denken wollen?

Wodurch definiert sich denn dein Geschmack? Hängt der tatsächlich davon ab, wer Du bist? Oder spielen da nicht das Herkunftsland, deine Generation, deine Eltern, deine Freunde und die Kultur im Allgemeinen mit hinein?

Guter Geschmack ist eine Lüge
Familie und Freunde spielen eine große Rolle bei deinem Geschmack.

Vielleicht hilft uns ein Beispiel, um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen. Viele Menschen würden Bilder auf Instagram von Männern oben ohne oder Frauen im Bikini vermutlich als geschmacklos empfinden. Auch wenn ihnen das, was sie sehen, eigentlich gut gefällt.

Hat dann der gute Geschmack nicht viel mehr mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun als damit, ob es objektiv als geschmackvoll einzuordnen ist?

Erst wenn sich mehrere Menschen einig darüber sind, was geschmackvoll ist und was nicht, kann es einen guten oder einen schlechten Geschmack geben. Wäre man sich nicht einig darüber, wäre das doch nur etwas, das dir besser gefällt.

Wir klingen also nur objektiv, wenn wir über den Geschmack sprechen. Weil sich viele Menschen innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe darüber geeinigt haben, was geschmackvoll sein darf.

Dadurch entsteht die Illusion der Objektivität. In Wirklichkeit ist es aber nur eine kulturelle Blase. Nur ein Vorurteil deiner eigenen Kultur.

Die Unterschiede im Geschmack

Natürlich gibt es auch unterschiedliche Musikgeschmäcker, sowie Menschen, die ein unterschiedlich großes Verständnis von Kunst oder Musik haben.

Klar: Wer Musik nur im Club hört, wird eine andere Meinung zur Musik haben als derjenige, der sich jahrelang mit Musik oder dem Musik machen auseinander gesetzt hat.

Lies auch: Die 155 besten Musikerzitate

Aber ich würde nicht sagen, dass ein so genannter „Musikexperte“ automatisch einen besseren Geschmack hat als jemand, der Musik nur im Musikantenstadl oder im Club hört.

Warum verstehen wir Musik anderen Genres oder aus anderen Kultur nicht also mal als Einladung, neue Dinge zu entdecken, anstatt den Musikgeschmack als Mittel zur elitären Ausgrenzung zu benutzen?

Müsste es nicht genau umgekehrt sein?

Müsste nicht gerade jemand mit einem informierten Musikgeschmack – also jemand, der sich wirklich mit Musik auseinandersetzt – gerade derjenige sein, der Interesse an Musik entwickelt, die sogar außerhalb der Normen der eigenen Kultur liegt?

„Geschmack ist das Spiegelbild unserer Identität“

Müssten nicht gerade wir Musiker dann diejenigen sein, die ihr Leben durch unbekannte Kunstformen und das Hören anderer Musikstile bereichern?

Unabhängig davon, wie diese Musik in deiner sozialen Gruppe wahrgenommen wird? Unabhängig davon, was deine soziale Gruppe für gut oder akzeptabel hält?

Wieso unser Geschmack trügerisch ist

In der Realität scheint es sich aber anders zu verhalten…

Denn an dieser Stelle unterscheiden sich jene Menschen, die Musik und Kunst als Statussymbol sehen, von denen, die Kunst tatsächlich lieben – und leben.

Es unterscheiden sich die Menschen, die in die Oper gehen, weil sie die Musik lieben, von zu denen, die vom guten Geschmack besessen sind.

Ich gehe in die Oper, weil ich kultiviert bin. Ich besuche ein Museum, weil dort weltberühmte Künstler ausgestellt sind.

Aber eigentlich verstehe überhaupt nichts von der Malerei oder der Oper oder schlimmer: Es interessiert mich nicht einmal. Aber ich habe einen guten Geschmack.

Guter Geschmack ist eine Lüge. Es ist die Ideologie, dass eine Kultur der anderen überlegen sei. Dass eine soziale Gruppe besser Bescheid wüsste als die anderen und deswegen mehr im Recht sei, Kunst und Musik richtig zu bewundern…und zu beurteilen.

Guter Geschmack ist eine Lüge
Unser Geschmack ist genauso vielseitig wie unsere Identität.

Insofern darf es kaum verwundern, dass meistens diejenige Kultur von der Gesellschaft als überlegen wahrgenommen wird, die zu den Menschen gehört, die mit mehr Macht ausgestattet sind.

Geschmack ist also weder gut noch schlecht. Geschmack ist das Spiegelbild unserer eigenen Identität.

Warum lassen wir uns also vorschreiben, was wir mögen oder nicht mögen sollen? Warum öffnen wir uns also nicht einfach den Arten von Kunst und Musik, die sonst kritisiert werden?

Lesetipp: Frauen stehen auf Mainstream – Männer auf krassen Scheiss

Das erfordert Mut. Das erfordert Reflexion, um die Illusion des guten Geschmacks zu durchblicken und dann wieder Mut, um gegen den Strom zu schwimmen.

Und zwar eine Menge Mut, um sich seine eigene Meinung jenseits des Mainstreams und des eigenen sozialen Umfelds zu bilden.

Und dann braucht es auch Selbstbewusstsein, um sich seiner eigenen Identität bewusst zu werden und diese zuzulassen.

Aber ich könnte meinen Punkt auch so zusammenfassen: Wenn Du Ananaspizza magst, bist Du ein degeneriertes Monster ohne Geschmacksnerven, das es nicht verdient zu leben.

ANZEIGE

EMPFEHLUNGEN