Offener Brief an die Hersteller von Musiksoftware im Namen blinder Musiker

Braillezeile
Braillezeile

Carlos San Segundo Von Carlos San Segundo

Blind drauf los komponieren – Ein Aufruf an die Software-Schmieden

Jeder kennt sie. Mit weissem Stock bewaffnet tasten sie sich durch die Straßen und Passagen. Nur was machen Blinde eigentlich, wenn sie zu Hause sind? Viele werden bestimmt fragend gucken, wenn ich sage, dass Blinde, zu denen ich auch gehöre, oft am Computer Musik produzieren. Ich werde hier ein wenig auf das Musikmachen als Blinder und die daraus resultierenden Probleme eingehen, aber lies selbst…

Wenn man „blind“ hört, werden die meisten wahrscheinlich als erstes eine Sonnenbrille tragende Person vor Augen haben, die gerade am Körbe flechten ist, oder Schrauben eintütet. Aber weit gefehlt! Wie viele andere sitzen wir in der Freizeit vor dem Rechner und hantieren mit Mikrofonen und Synthesizern herum. Vielleicht fragst Du dich, wie das gehen soll.

Solltest Du selbst zu den Herstellern von Musiksoftware gehören, bitte ich dich, diesen Text besonders aufmerksam zu lesen. Was braucht denn nun ein Blinder, um mit einem Computer arbeiten zu können?


PASSEND DAZU


 

Der „Bildschirm“ für Blinde

Als erstes hat jeder von uns eine sogenannte, die den gesamten Bildschirm, Zeile für Zeile in Brailleschrift (Taktil) darstellt.

An der unteren Seite wirst Du viele kleine Löcher sehen. An dieser Stelle kommen je nach Text, kleine Plastikstifte hervor, die zusammengenommen Buchstaben ergeben. Wenn man nun mit den Pfeiltasten auf dem Bildschirm navigiert, wechseln auch die dargestellten Punkte. Man kann also sagen, dass die Braillezeile, der Monitor eines Blinden ist.

 

Screenreader helfen beim Lesen

Als nächstes wäre da noch der so genannte Screenreader (ein Programm zum Auslesen des Bildschirms), ohne den die Braillezeile keinen Sinn ergeben würde. Dieser wandelt alle verfügbaren Daten so um, dass sowohl die Braillezeile als auch die Sprachausgabe, den Text wiedergeben können. Zudem hat ein Screenreader auch eine Funktion, die den Inhalt des Bildschirms vergrößern und für bessere Kontraste, farblich verändern kann.

Mittlerweile integriert der Hersteller Apple einen solchen Screenreader (mit dem Namen Voiceover) standardmäßig und kostenlos in jeden Mac. Falls Du also mal wie ein Blinder am Mac arbeiten möchtest, musst du nur unter System/ Bedienhilfen das Programm Voiceover aktivieren. Momentan ist dieser leider nur auf Englisch verfügbar, was sich im nächsten Betriebsystem OSX Lion aber ändern soll. Für Windows stehen in verschiedenen Sprachen kostenpflichtige Screenreader wie Cobra, Jaws oder Window-Eyes zur Verfügung.

Woher der Screenreader seine Informationen bekommt, ist eigentlich leicht zu beschreiben: Er greift auf den Quellcode des jeweiligen Betriebssystems oder geladenen Programms zu und gibt die für Blinde relevanten Informationen in Braille und Sprache wieder. Der Computer „plappert“ dann so Star-Trek-mäßig vor sich hin.

 

Musiksoftware bedienen für Blinde

Einige Musikprogramme erlauben uns Blinden mithilfe von Anpassungen der Screenreader die barrierefreie musikalische Arbeit. Zu diesen Programmen zählt z.B. die DAW Sonar, die sich auf der Windowsplattform als der am besten zu bedienende Sequenzer für Blinde erwiesen hat. Auch die Entwickler des Musikprogramms Reaper haben ihre DAW in einigen Punkten barrierefrei gemacht.

Auf dem Mac kämen dann noch Garageband, das laut Apple zugänglich sein soll sowie Pro Tools von Hersteller Avid, das ebenfall Fortschritte macht.

Eines haben sie aber fast alle gemeinsam: Sie lassen sich nicht ohne zusätzliche Anpassungen (Skripte) bedienen. Und diese Anpassungen müssen für viel Geld zusätzlich erworben werden.

Diese Skripte werden von den Herstellern von Screenreadern hergestellt und kosten nicht selten bis zu 250,- Euro. Zusammen mit dem Anschaffungspreis einer DAW, ein teurer Spass. Insbesondere wenn man bedenkt, dass dieser bei jedem Upgrade von vorne losgeht.

Ideal wäre, die Musiksoftware schon von Haus aus auf die Nutzung mit einem Screenreader vorzubereiten. So, dass wir Blinden die teuren Skripte nicht noch zusätzlich erwerben oder wenigstens nur noch einen kleinen Teil anpassen müssten.

 

Was ist das Problem?

Die DAW-Software wird komplett über die Tastatur gesteuert. Mausklicks werden über einen so genannten Hot Spot simuliert, der einen bestimmten Punkt auf dem Bildschirm definiert. Leider verwehrt die aktuelle Programmierungsweise vieler Plugins und Sequenzerprogramme dem Screenreader verwertbare Daten zu ermitteln. Photorealistische Darstellungen ohne beschriftete Parameter helfen nicht gerade in Sachen Barrierefreiheit.

Dass das auch anders geht, beweisen Sonar, Reaper, Garageband oder Pro Tools – praktisch die Pioniere für Blinde in der Musiksoftware.

Dabei lassen Microsoft und Apple Entwickler nicht etwa blind umherirren (höhöhö), sondern stellen umfangreiche Dokumentationen zur Verfügung. Diese zeigen, wie er seine Programme für Screenreader zugänglich machen kann.

Liebe Hersteller von Musiksoftware, bitte schaut euch doch mal die nachfolgend verlinkten Dokumentationen einmal an. Vielleicht könnt ihr damit in Zukunft eure Produkte einem erweiterten Kundenkreis zugänglich machen: für Mac / für Windows

 

Der Aufwand lohnt sich nicht?

Nein, für uns lohnt sich das nicht. Dafür ist der Kundenkreis einfach zu klein. Haben wir schon gehört, kennen wir. Aber vielleicht täuscht der erste Eindruck.

Im ersten Moment mag es scheinen, dass wir Blinden ein kleines Grüppchen von Musikern seien. Das liegt aber nur an der fehlenden Präsenz in der Öffentlichkeit und auch im Internet. In Letztgenannten haben sich aber einfach Mailinglisten durchgesetzt, die fast alle nicht öffentlich einsehbar sind. Aber wir sind da und wir sind viele.

Bitte checkt doch mal Mailinglisten für Blinde wie die „JSonar Liste“ und das Portal „blindzeln.de“ oder „ml4free.de“. Oder wie wäre es mit den englischen Pendants: „dancingdots.com“ und „ddots-l@freelists.org“ oder die „Midi-mag Liste“.

Schätzungen besagen, dass 650.000 Blinde und Sehbehinderte Menschen in Deutschland leben. Würde sich davon nur jeder Zwanzigste für Audiosoftware interessieren, wären das 30.500 potenzielle Kunden.
Es wäre sehr schön, wenn ihr, liebe Hersteller von Musiksoftware, euch mal mit diesem Thema beschäftigen könntet. Und wer weiss? Vielleicht ist ja schon bald eure Software der Renner unter den blinden Musikern?

P.S.: Momentan wird ein Pilotprojekt gestartet, das den Grundstein für eine Tontechniker-Ausbildung für Blinde und Sehbehinderte legen soll. Bedienbare Audiosoftware ist hier wohl Pflicht.

 

Anm. d. Red.:

Soweit der offene Brief an die Hersteller von Musiksoftware von Maik Brodnicki. Du kannst seinem Anliegen mehr Kraft verleihen, wenn Du auf diesen Brief reagierst. Schreib einen Kommentar oder teile den Brief auf Facebook, Twitter oder anderen sozialen Netzwerken. Vielen Dank im Namen von Maik.

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